Liebe Mutter, die heute auf dem Spielplatz meinetwegen entsetzt war,

ich habe gemerkt, was Du zu Deinem Mann gesagt hast: „Die armen Kinder! Da muss man doch aufpassen! Unverantwortlich!“ Du warst entsetzt, weil mein kleiner Sohn die Leiter der Rutsche hochgeklettert ist – ganz alleine. Du dachtest seine Mutter hätte ihn vielleicht verloren. Anders konntest Du Dir wohl nicht erklären, dass man den Kleinen einfach machen lässt. Du hast mein Kind also runtergehoben von der Leiter. Du hast ihn nicht angesprochen, sondern ihn wortlos herabgehoben und abgestellt. Mein Sohn war etwas verdutzt, weil er so ein übergriffiges Verhalten nicht gewohnt ist, er kam zu mir gelaufen und alles war wieder gut. Eigentlich eine belanglose Szene. Ich danke Dir, dass Du mit offenen Augen durch die Welt gehst und helfen willst und Dich einmischt. Das finde ich wirklich einen tollen Charakterzug.

ABER:

Ich hatte meinen Sohn gar nicht verloren. Ich bin auch nicht desinteressiert oder unaufmerksam. Ganz im Gegenteil. Ich saß wenige Meter entfernt und habe meine Kinder beobachtet. Und ich hab auch Dich gesehen, wie Du Deine Kinder offenbar ganz anders erziehst als ich die meinen. Du standest neben der Rutsche und hast Deinem Sohn Anweisungen gegeben. Genauso wie Dein Mann, der weiter weg saß und den Jungen seinerseits mit Befehlen überhäuft hat. Darüber wie er korrekt zu rutschen habe und wozu eine Rutsche alles nicht da sei: Zum Klettern, zum einfach dasitzen, zum Träumen. Ich hab mich gewundert. Dein Sohn ist bestimmt acht Jahre älter als meiner. Er wird schon wissen, wie das geht und ich finde sogar: Er kann auf der Rutsche machen was er will, solange keine anderen Kinder gestört werden. Lass ihn doch einfach mal in Ruhe. Denk ich mir. Sag ich aber nicht. Geht mich schließlich nichts an.

Menschenstudien auf dem Spielplatz

Ich habe viele Mütter an diesem Tag gesehen. Solche, die gemeinsam mit den Kindern in der Sandkiste sitzen und die Zeit genießen oder deren Kinder anderweitig friedlich spielen, so wie meine.

Und ich habe Mütter gesehen, die genervt neben der Wippe stehen oder die warten, bis der Sprößling endlich fertig gerutscht ist. Mütter, die ihre heulenden Kinder dann hinter sich her vom Spielplatz ziehen rüber in die Raucherecke. Eltern, denen unter dem Klettergerüst der Angstschweiß auf der Stirn steht und die ihrem Kind dauernd panisch zurufen: „Vorsichtig! Komm wieder runter! Du schaffst das nicht! Das ist zu hoch!“ Oder sonst irgendeinen Quatsch. Solche, die ständig auf die Kinder einreden, aber wegschauen, wenn ihre Kinder andere drangsalieren. Die sich umdrehen und so tun als wären sie nicht da, damit ihre Kinder auch ja nicht kommen um sie zu nerven.

Und bei all dem, was ich gesehen habe, hast Du mich ausgesucht, um entsetzt zu sein?

Darf ein Kind nicht einfach mal seine Ruhe haben?

Ich bin ja ein kommunikativer Mensch und sag Dir gerne, warum ich mich nicht in das Spiel meiner Kinder einmische: Kinder müssen in unserer Gesellschaft unheimlich viel funktionieren. Kinder müssen sich so oft nach uns Erwachsenen richten. Ich finde, wer sich so viel einordnen muss in unsere Zeiten und unsere Vorstellungen, der muss auch irgendwann mal Raum haben, sich frei zu entfalten. Sollen sie doch klettern, toben, rennen, träumen oder im Achteck springen. Solange sie andere Kinder dabei nicht stören, ist das doch völlig egal. Wir müssen unseren Kindern nicht sagen, wie sie zu spielen haben. Ich finde, auf dem Spielplatz sollte man sich mal nach den Kindern richten, wenn schon sonst so selten im Leben. Wenn meine Kinder mich dabei haben wollen: schön, wenn sie einfach in Ruhe spielen wollen, ist das für mich aber genauso in Ordnung.

Wozu ein Spielplatz gut ist

Warum ich so entspannt bin? Erstens, weil ich glaube, dass Kinder Vertrauen brauchen, um zu lernen. Das ist meine erzieherische Auffassung. Und zum Zweiten sind Spielplätze in Deutschland zertifiziert. Wer Spielgeräte aufstellt und für die öffentliche Nutzung zur Verfügung stellt (oftmals die Kommunen) muss dutzende Normen einhalten und auch für regelmäßige Überprüfungen sorgen. In den Normen ist zum Beispiel festgelegt, wie weich der Untergrund bei welcher Fallhöhe sein muss. Diese Normen führen auch dazu, dass Stufen – zum Beispiel zu Rutschen – eine bestimmte Höhe haben müssen. Wenn ein Kind nicht selbständig auf ein Spielgerät raufkommt, dann ist es für sein Alter auch noch nicht geeignet. Deshalb ist es auch so fatal, seinem Kind auf ein Gerüst oder sonstwas raufzuhelfen.

Kinder müssen üben und spielen dürfen

Wenn ein Kind nun von Anfang an schrittweise lernt Spielgeräte zu benutzen, dann kann es sie auch beherrschen. Es hält sich fest und lernt je höher es kommt, Gefahren einzuschätzen. Spielplätze mögen für uns Erwachsene gefährlich aussehen, in Wahrheit passiert aber wenig. Zumindest wenn die Kinder geübt sind.

Unfälle auf Spielplätzen

Wie viele Unfälle an welchen Spielgeräten passieren und wo die Ursachen liegen, dazu gibt es leider keine Studie. Dass die Unfallzahlen ansteigen, lässt sich herauslesen, aber das kann vielerlei Ursachen haben. Aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland („K i G G S“) des Robert Koch Instituts lassen sich aber folgende Zahlen ziehen: 15,5% der Kinder und Jugendlichen deren Eltern im Rahmen der Studie befragt wurden, sind innerhalb des letzten Jahres wegen eines Unfalls ärztlich betreut worden. 10 bis 15 Prozent von ihnen (je nach Altersklasse) verunfallten auf dem Spielplatz. Recht überschaubar im Gegensatz zu anderen Unfallorten (Nummer 1 ist übrigens das häusliche Umfeld), aber doch ein nicht geringer Prozentsatz.

Und was ist die Konsequenz?

Sollte man jetzt also mit einem Fangnetz unter der Rutsche stehen? Oder den Kindern noch genauer erklären, wie sie wo zu klettern haben? Das ist natürlich Quatsch. Denn Übung macht den Meister. Das finde nicht nur ich. Inke Ruhe von der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e.V. gibt zu bedenken: „Kinder verletzen sich auf Spielplätzen auch, weil Kinder sich ungeschickter bewegen, weniger Zeit und Möglichkeiten bekommen, sich auszuprobieren oder kein gut entwickeltes Gefahrenbewusstsein besitzen. Und das kann sich nur mit viel Zeit und Übungsmöglichkeiten entwickeln“. Heißt für mich: Kinder machen lassen. Gut beobachten und ansonsten vertrauen. Nur wer übt kann sich geschickt anstellen.

Und so liebe Mutter, die mit dem Kopf geschüttelt hat, schließe ich. Ich bin mir sicher, Du willst nur das beste für Dein Kind. Du hast Dir sicher gut überlegt, wie Du mit Deinem Kind umgehst. Ich auch. Heb Dir Dein Kopfschütteln doch einfach für andere auf. Oder noch besser: Sprich mich an. Wir können das gerne diskutieren.

 

Willst Du noch mehr über Spielplätze lesen? Bei Dreaming today gibt es eine Blogparade zum Thema 

 

 

14 Gedanken zu „Liebe Mutter, die heute auf dem Spielplatz meinetwegen entsetzt war,“

  1. Super Artikel! Ich stimme dir aus ganzem Herzen zu! (Ich erkenne mich oft in deinen Texten wieder… 🙂 )
    Wie oft wurde ich schon auf dem Spielplatz (oder im städtischen öffentlichen Raum) angepflaumt, dass ich mein Kind nicht beaufsichtige, bloß weil ich es „machen lasse“?
    Mir hat zu Beginn das Gedankenspiel geholfen: „Ok, es sieht in meinen Augen gefährlich aus. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? – Beule, blauer Fleck (mehr passiert beim Sturz auf dem Spieli selten). Das ist nicht wirklich schlimm und heilt wieder.“ Also lass ich mein Kind machen. Und wenn ich merke, dass ich innerlich verkrampfe, schaue ich auch weg, um mein Kind nicht mit meiner Reaktion zu verunsichern. – Inzwischen bin ich da wirklich entspannt.

    Ansonsten versuche ich, andere Eltern nicht zu verurteilen. Manchmal denke ich, „hmm, das hätte ich jetzt anders geregelt“, aber ich muss meine Meinung nicht aussprechen und denen mitteilen. Ich denke mir, die haben sicher einen Grund, warum sie sich so verhalten. Und genausowenig möchte ich von Fremden gemaßregelt werden. Ich wünsche mir mehr leben und leben lassen. (Im Rahmen, dass man andere nicht verletzt, bzw. Rücksicht nimmt)

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  2. Ich muss ja zugeben, manchmal rutscht mir der Satz auch über die Lippen. Allerdings nicht bei Freiwildkletterern. Da gehört Mausi dazu 🙂 Manchmal bildet man sich einfach vorschnell ein Urteil und die Lippen sind schneller als das Hirn… Zumindest bei mir 😉 Mittlerweile ist mir egal, wenn andere was über mich sagen. Ich kann das konsequent ignorieren. Manchmal finde ich solche Sätze aber auch angebracht… Wenn die Kinder hinfallen und dann heißt es „Indianer kennen keinen Schmerz“ und so Floskeln. Dass die Verletzung womöglich wirklich nicht groß ist – ok. Aber das Kind muss dennoch in seinem Leid ernst genommen werden… DA sage und denke ich sowas eben auch… Man kennt nur die Situation, urteilt vielleicht völlig falsch, aber ich glaube, jeder urteilt mal. Ob im Stillen oder eben auch laut. Und, weil ich das weiß, ist mir das egal geworden. Dennoch versuche ich es bewusst nicht mehr so oft zu machen. Weil ich ja selber oft genug nicht pädagogisch wertvolle Reaktionen zeige… Lass dich nicht davon beeindrucken oder ärgern.

    Zum Freispielen selber: Ich habe genau wie du gehandelt und würde/werde es wieder tun. Manchmal gab es sogar klein Unfälle. So what? Auch eine negative Erfahrung muss mal mit drin sein. Die Maus zeigte sich davon meist angestachelt und hat es immer wieder versucht – bis es ihr gelang. So lang man solche Situationen gut begleitet, nehmen sich Kinder auch was Positives mit. Also: Weiter so!

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    • Danke für Deinen lieben Kommentar und den Einblick. Oh ich hasse dieses „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Jungs weinen doch nicht“ oder so ein Käse. Ich finde man muss für die Kinder da sein, wenn sie einen brauchen und sie in Ruhe lassen, wenn sie alleine klarkommen. Aber so wie ich Deine Texte kenne, siehst Du das wie ich;-)

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  3. Ein wriklich schöner Beitrag. Ich gebe zu, manchmal erwische ich mich auch dabei, wie ich mir denke: was macht die da? Oder was macht die da nicht? Aber ich behalte das für mich, denn jeder tut das, was er für richtig hält und was gut für sich selbst und die Kinder ist (hoffentlich). Aber genau solche Meinungen, Gesichter und Getuschel zu bekommen ist der Grund, warum ich nicht gerne auf den Spielplatz gehe. Sollten sich alle eine Scheibe Gelassenheit von euch abholen!

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  4. Toller Artikel, dem ich nur absolut zustimmen kann. Kinder entwickeln ja erst Selbtbewusstsein, wenn sie merken was sie alles können, und das können sie erst merken wenn man sie lässt. Oft spielt da die Angst und Unsicherheit der Eltern eine viel größere Rolle, als die der Kinder. Schön finde ich es auch immer, wenn das Kind auf dem Spielplatz eine Jacke anziehen muss, weil der Mutter oder dem Vater kalt ist ;-). Aber loslassen ist natürlich nicht immer einfach, ich muss mir da auch oft auf die Zunge beißen und bin froh, dass ich viele Dinge einfach gar nicht mitbekomme 🙂

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    • Oh Ella, das ist ja wirklich eine ganz ähnliche Geschichte! Ich kannte sie noch gar nicht, aber es ist schön, dass du ähnlich empfunden hast. Obwohl- eigentlich ist es nicht schön, denn Situationen wie diese scheinen ja damit häufiger vorzukommen…..

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  5. Hallo, oh ja, ich kenne das auch. Ich bin so eine Panikmama, die am liebsten jeden Moment rufen möchte „Pass auf!“, „Halt Dich fest!“, „Nimm beide Hände!“, „Guck nach vorne.“, „Sieh nach hinten!“, „Nimmt die Leiter!“, „Nimm jetzt nicht die Leiter!“ usw. Aber ich beiße mir auf die Lippen. Ich halte meine Klappe, denn ich weiß, ich nerve meine Kinder damit unendlich. Und ich verunsichere sie nur. Sie werden nur selbstsicherer, wenn sie es ausprobieren dürfen und es passiert m.E. auch weniger, wenn sie es können. Sie können es aber nur, wenn sie es dürfen…. Na Du weißt schon. 🙂 Ich habe einmal einen Papa von vier Kindern (damals hatte ich erst mein erstes Kind) gefragt, wie er die Nerven behält, wenn seine vier alle auf einmal klettern, toben und rutschen wollen. Er meinte dazu, das sei eine Art „kontrolliertes Wegsehen“, um nicht den Kopf zu verlieren und erfahrungsgemäß passiere viel weniger als man es sich im Kopf immer so ausmalt. Ich habe mir das damals zu Herzen genommen. Vor allem hatte ich kurz darauf auch die Erfahrung gemacht, dass mein Kind in der KiTa viel mehr durfte als mit mir auf dem Spielplatz und das es schon viel mehr konnte als ich ihm damals zutraute. Seitdem beobachte ich meine Kinder, lasse sie aber machen und greife nur ein, wenn es wirklich gefährlich wird. Bei meiner Jüngsten bin ich natürlich noch dichter dabei, aber bei den Größeren gucke ich auch mal weg, wenn ich kurz davor bin, etwas blödes zu rufen. 🙂 Lieben Gruß

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    • Kontrolliertes Wegsehen😂 das find ich gut.
      Was du in Sachen Kita beobachtet hast, kann ich nur so unterschreiben. Mir wird es manchmal ganz mulmig, wenn ich das beobachte, aber es scheint ja alles gut zu gehen. Wir denken oft zu viel dran, was passieren könnte. Das geht bestimmt allen Eltern zu. Ich muss mich auch oft zusammenreißen.

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  6. Klasse Artikel. Ich muss gestehen, ich wäre wahrscheinlich auch eine übervorsichtige Mutter geworden ABER mein Mann nimmt den Hauptteil der Elternzeit und er kümmert sich nicht nur rührend um unsere Tochter, man merkt einfach, dass Männer anders erziehen und das ist gut so. Unsere Kleine kletterte schon bevor sie laufen konnte die Treppe in der Wohnung alleine rauf und runter. Runter immer rückwärts, so hat er es ihr beigebracht. Am Anfang hatte ich auch Bedenken und leichte Panik, aber es funktioniert. Man kann Kindern bereits sehr früh beibringen, dass sie etwas können und worauf sie dabei achten müssen. Ich finde das prima.Sie klettert auch alleine die Leiter zur Rutsche rauf. Bei kleinen Rutschen rutscht sie alleine, bei großen Rutschen möchte sie sich an einem Finger festhalten und das ist ok. Wir ermutigen sie aber auch regelmäßig, es alleine zu probieren und mittlerweile hat sie selbst herausgefunden, dass das rückwärts auf dem Bauch am besten und ungefährlichsten klappt. Cleveres und mutiges Kind 🙂 Ich warte schon auf den Tag, wo sie das erste Mal auf einen Baum klettert und runterspringt *g* Leitern findet sie übrigens ganz toll 😉

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  7. Wunderbar! Danke für Deine Worte, die mir aus der Seele sprechen. Mein Baby ist zwar erst 10 Monate alt, aber ihn allein machen zu lassen, das beginnt ja schon früh. Immer wieder haut er sich wo an, hat immer blaue Flecken, weint… aber das ist SEIN Lernen. Immer wieder schleicht sich mal dazwischen so das kleine schlechte Gewissen ein. Wegen besorgten Eltern wie der Mama, die Du vom Spielsplatz beschreibst. Da ist es eine Wohltat für die Seele, Deine Zeilen zu lesen! Schönen Sommer 🙂

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    • Hallo Margit, sein Kind zu bestärken, es zu trösten und ihm zu zeigen, dass er oder sie es schaffen kann. Das ist die zentrale Aufgabe von uns als Eltern. Auch wenn es manchmal schwer ist loszulassen. Kennst Du den Autor Gibran: „Eure Kinder sind nicht Eure Kinder. Es sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.“ Das sagt so viel aus.

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  8. DANKE!
    Wirklich auf tiefstem Herzen danke für diesen Beitrag. Ich glaube, dass es in der heutigen Zeit unheimlich wichtig ist, dass wirklich jeder das mal liest und auch versteht, was er seinen Kindern damit antut, wenn er sie ständig bevormundet oder wie ein rohes Ei behandelt. Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Kinder müssen hinfallen und sich wehtun und zwar oft, ansonsten lernen sie nämlich nie wie man das vermeidet. Wie soll ein Kind jemals lernen, was Kreativität oder Erfindungsgeist ist, wenn es nie etwas ausprobieren darf?
    Klare Regeln und Grenzen, ja. Konsequentes Handeln, ja.
    Ständiges Propellern, oh bitte nicht!
    Liebe Grüße

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