Lernentwicklungsgespräch: Selbst einschätzen statt Zeugnisse

In vielen bayerischen Grundschulen werden die Halbjahreszeugnisse mittlerweile von Lernentwicklungsgesprächen und Evaluationsbögen abgelöst. Aber was bedeutet das genau? Und macht das Sinn?

Was ist ein Lernentwicklungsgespräch

Grundschulen in Bayern haben seit dem Schuljahr 2014/2015 die Option, das Zwischenzeugnis in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 durch ein dokumentiertes Lernentwicklungsgespräch zu ersetzen. Jede Schule kann selbst entscheiden, ob sie Lernentwicklungsgespräche anbietet. Die Entscheidung fällt dann grundsätzlich für alle Schüler. Wenn einzelne Eltern das Gespräch ablehnen, wird für diese Schüler lediglich ein Zwischenzeugnis ausgestellt.

Warum Lernentwicklungsgespräche an Grundschulen?

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband kritisiert seit Jahren die Diskrepanz zwischen „modernem Lernbegriff und innovativen Unterrichtsmethoden einerseits und den altmodischen, weil wenig aussagekräftigen, auf Noten basierenden Leistungsrückmeldungen andererseits. “ Nachzulesen auf der Homepage des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Genau das war auch mein Eindruck als Mutter: Die Rahmenbedingungen in der Schule haben sich in den letzten Jahren kaum entwickelt. Die konkrete Umsetzung und der Unterricht allerdings schon. Der Unterricht erscheint mir viel individueller als bei uns früher. Dem trägt auch das Gespräch statt der starren Noten Rechnung.

Konkreter Ablauf des Lernentwicklungsgesprächs

Das Lernentwicklungsgespräch braucht einige Vorbereitung: Von Schülern und Eltern, aber auch von der Lehrkraft. Es gab bei uns einen mehrseitigen Evaluationsbogen, der in den Wochen vor dem Gespräch ausgefüllt und abgegeben werden musste. In diesen Bogen tragen die Kinder ein, wie sie sich selbst einschätzen. Die Lehrkraft füllt den gleichen Bogen aus. Themen sind dort beispielsweise: „Ich kann mich gut entschuldigen“, „Ich melde mich oft“, aber auch fächerspezifisches wie „Ich kann gut in der Zeile schreiben“, „Ich lese regelmäßig“ und „Ich kann Minus- und Plus im Zahlraum bis 20 rechnen“. Das Kind muss sich bei all diesen Fragen beziehungsweise Aussagen selbst einstufen. Beim Lernentwicklungsgespräch werden die Einschätzungen von Lehrkraft und Kind abgeglichen. Bei Abweichungen kann das Thema direkt diskutiert werden.

Ganz entscheidender Teil des Lernentwicklungsgesprächs war auch die Frage nach den weiteren Zielen des Kindes. Wo sieht es sein eigenes Verbesserungspotential? Meine Tochter beispielsweise hat erstaunlich klar erkannt: „Ich will, dass es mir weniger ausmacht, wenn ein Problem auftaucht.“ Ein tolles Ziel für das nächste halbe Jahr. Andere Kinder wollen schneller beim Rechnen werden, flüssiger lesen oder sauberer arbeiten. Zwischen Kind und Lehrkraft werden die Lernziele festgehalten und von beiden offiziell unterschrieben.

Bei uns an der Schule ist es tatsächlich so, dass die Eltern während des Gesprächs nichts sagen dürfen. Eltern sind nur Zaungäste. Das Gespräch fand zwischen Kind und Lehrerin statt.

Macht ein Lernentwicklungsgespräch statt eines Zeugnisses Sinn?

Ja! Und zwar aus diesen Gründen:

  1. Kinder sollten früh ernst genommen werden. Das Lernentwicklungsgespräch sendet ans Kind ein tolles Signal: Deine Meinung ist wichtig. Das können Kinder gar nicht früh genug lernen. Sie können sich mit der Lehrkraft auf Augenhöhe unterhalten. 1:1. Eine gute Gelegenheit, die die Kinder sonst ja quasi nie haben.
  2. Jedes Kind ist einzigartig: Beim Lernentwicklungsgespräch steht das Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten und seiner besonderen Persönlichkeit im Mittelpunkt.
  3. Jeder kann etwas gut und etwas anderes nicht so gut. Klassische Zeugnisse bilden ab, wie gut die Leistung der Schülerinnen und Schüler im Ergebnis ist. Der Weg dahin wird aber wenig wahrgenommen. Der ausführliche Evaluationsbogen bildet dagegen auch ab wie es dazu kam, wo sich jemand bemüht und wo er sich vielleicht nicht genug angestrengt hat. Wie aktiv jemand mitarbeitet, wie ordentlich er die Hausaufgaben gemacht hat und vieles mehr. Sich bemühen wird honoriert.
  4. Jedes Kind ist dazu angehalten niederzuschreiben, was es noch nicht so gut kann und wo es besser werden will. Sich Schwächen eingestehen – das können viele Erwachsene nicht.
  5. Eltern und Kinder im engen Austausch. Beim Ausfüllen des Bogens saßen wir lange zusammen. Florentine hat überlegt, Revue passieren lassen und einige Erlebnisse aus dem letzten viertel Jahr erzählt, die im Alltag irgendwie untergegangen waren. Das war wirklich interessant und hat uns gut getan.

Doch noch ein Einwand?

Ich gebs zu: Ich war etwas skeptisch. Ich dachte nicht, dass es so gut wie es klingt tatsächlich durchgezogen wird: auf Augenhöhe. Aber es hat wirklich toll geklappt. Was es braucht, damit das Lernentwicklungsgespräch ein Erfolg wird sind Lehrer, die das wirklich ernst nehmen und Eltern, die mitziehen. Denn natürlich: Wer den Bogen nicht richtig ausfüllt, wer keine Ziele definiert und keine echte Einschätzung gibt, der kann auch nicht ins GEspräch kommen und sich reflektieren. Alleine werden das aber die wenigsten Kinder beim ersten Mal schaffen. Aber an die Wenigen, die nicht mitziehen, wollen wir nicht denken, sondern eher an die vielen Kinder, die von diesen Lernentwicklungsgesprächen profitieren.

Zeugnisse sind SChnee von gestern. Beim Lernentwicklungsgespärch können Kinder ihre Stärken und SChwächen offen ansprechen und darlegen wo sie noch Entwicklungspotential sehen.

2 Gedanken zu „Lernentwicklungsgespräch: Selbst einschätzen statt Zeugnisse“

  1. Ich sehe das Thema zwigespalten. Seit fünf Jahren wohne ich diesen Gesprächen bei. Und leider ist es extrem vom Lehrer abhängig, mit welchem Gefühl das Kind dieses Gespräch verläßt.
    Wenn der Lehrer das, was seiner Meinung nach nicht so gut läuft noch mit vielen negativen Worten untermauert, kann er damit das restliche Schuljahr für das Kind versauen.

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    • Oh ja. Das kann ich mir schon vorstellen. Aber dieser Lehrer würde dem Kind das Schuljahr auch ohne das Gespräch versauen, oder? Schuld ist vermutlich nicht die Form des Gesprächs, sondern die Menschen, die die Gespräche führen. Wer selbst nicht hinter einem Konzept steht als Lehrer, der kann es eh nicht richtig ausfüllen.

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