Hart oder weich? Schwarz oder weiß? Erziehung oder Beziehung? Wer sich heute mit dem Thema – ich nenn es mal allgemein: Umgang mit Kinder – beschäftigt, trifft auf harte Fronten. Auf Extreme. Da regen sich die einen darüber auf, dass Kinder alles dürfen, dass sie sich nicht unterordnen können, dass sie das Wort „nein“ nicht kennen. Sie rufen nach mehr Härte. Sie mahnen an, dass Kinder Regeln und Grenzen brauchen. Und dann gibt es die anderen, die darüber schreiben und davon erzählen wie wichtig die kindlichen Bedürfnisse sind. Dass die gute Beziehung zum Kind über alles geht und dass Kinder von Anfang an gut so sind wie sie sind. Dazwischen – so scheint es – gibt es keine Wahrheit. Wirklich nicht?
Begriffsklärung:
Erziehung
Im Wort „Erziehung“ steckt es schon drin: Erziehung hat den Anspruch, Kinder zu Erwachsenen heranzuziehen und sie damit zu formen. Der jahrhundertealte Gedanke, dass Kinder als unvollkommene Wesen auf die Welt kommen, liegt dem zu Grunde. Erst durch Erziehung werden sie zu Mitgliedern der Gesellschaft. Erziehung beinhaltet in der Regel, dass durch den Erwachsenen Grenzen gesetzt und Regeln vorgegeben werden, die die Kinder dann einhalten müssen. Das kommt in unterschiedlichster Intensität vor.
beziehungs- und bedürfnisorientierte Pädagogik
In der beziehungs- und bedürfnisorientierten Pädagogik ist der Grundgedanke ein ganz anderer: Das Verhalten der Kinder wird nicht bewertet oder sanktioniert, sondern stets als Signal wahrgenommen. Entscheidend ist stets die gute Beziehung, der wertschätzende Umgang und die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Man geht grundsätzlich davon aus, dass Kinder kooperieren wollen.
Die Ziele von Erziehung und von bedürfnisorientierter Pädagogik
Die Ziele der Erziehung über Jahrhunderte waren in erster Linie Gehorsam, Unterordnung. Heute ist das anders. Wir wünschen uns, dass unsere Kinder emphatische, selbstbewusste Erwachsene werden, die sich in andere einfühlen können und wertschätzend miteinander umgehen. Natürlich kann man das mit einer „unterdrückenden“ Erziehung, die kaum Freiräume lässt, nicht erreichen.
Dann also bedürfnisorientiert?
Jein. Ein großes Problem, das ich im Bereich Bedürfnisorientierung sehe ist, dass es Menschen wie ein Dogma umsetzen. Jeder kleine Wunsch der Kinder wird wie ein Bedürfnis ausgelegt und alles sofort erfüllt. Ich sehe so viele Mütter, die es bedürfnisorientiert versuchen und am Ende ganz leergesaugt sind, weil sie das Gefühl haben, ihre eigenen Bedürfnisse werden gar nicht mehr wahrgenommen. Mir ging es selbst auch so. Vor allem mit mehreren Kinder gibt es schnell „Bedürfniskonflikte“. Viele Mütter haben ein schlechtes Gewissen wegen jeder kleinen Uneinigkeit und wollen es den Kindern dauernd recht machen. Sie werden unsicher. Dabei bedeutet Bedürfnisorientierung gar nicht, dass alle Wünsche erfüllt werden. Ganz im Gegenteil.
Bedürfnisorientierung bedeutet Orientierung auf die Grundbedürfnisse
Die emotionalen Grundbedürfnisse sind die nach Sicherheit, Anerkennung, Liebe und Zugehörigkeit (Quelle: Katja Saalfrank – mehrere Vorträge). Die Diskussionen darüber wie und ob die Bedürfnisse der Kinder mit denen der Eltern oder Geschwister in Einklang gebracht werden können oder müssen, finde ich daher äußerst schwierig. Die Grundbedürfnisse der Kinder zu schützen und zu befriedigen sollte stets Ziel von uns Eltern sein. Das ist die große Linie in der bedürfnisorientierten Pädagogik. Katja Saalfrank erklärt das an mehreren Stellen ganz wunderbar. In Vorträgen oder auch in ihren Büchern.
Wo meine Zerrissenheit lag: In Beziehung statt Erziehung
Der Grundslogan der bedürfnisorientierten Pädagogik setzt mir zu. Der Grund ist, dass ich das Gefühl habe ich müsste mich entscheiden zwischen Beziehung und Erziehung. Das will ich aber gar nicht. Ich kann an Erziehung nichts per se Schlechtes sehen. Es hängt doch immer davon ab, wie man es macht. Erziehung hat für Viele einen faden Beigeschmack. Erziehung klingt für sie nach Zwang. Aber für mich ist Erziehung Sicherheit. In der Erziehung gebe ich meinen Kindern eine Richtung vor. Ich versuche ihnen dabei zu helfen gut geerdet und sicher ins Leben zu starten. Ich versuche ihr Leitwolf frei nach Jesper Juul zu sein. Mit dem Gegensatzpaar habe ich den ständigen Eindruck ich müsste hin und herspringen. Manchmal bin ich schon streng. Ich kann und will manche Dinge nicht locker sehen. Das heißt aber nicht, dass ich meine Kinder zwinge oder niedermache. Das bedeutet nur, dass ich an manchen Stellen glaube, dass meinen Kindern eine deutliche Führung gut tut. Bisher hatte ich da oft den Eindruck ich müsste ständig umswitchen. Das war anstrengend und ich hatte stets das Gefühl ich würde auf der jeweils anderen Seite versagen.
Bedürfnisorientierung ist kein Erziehungssystem, sondern eine Lebenseinstellung
Kinder sind gleichwertig. Das bedeutet nicht, dass sie im System Familie gleich viele Rechte haben, wie die Erwachsenen. Aber fest steht doch: Sie sind gleich viel wert. Sie haben das Recht respektiert und als Mensch nicht abgewertet zu werden. Kinder haben ein Recht darauf, dass ihnen zugehört wird und dass ihre Gefühle erkannt und ernst genommen werden. Und das ist doch wirklich eine gute Lebenseinstellung.
Verhalten nicht bewerten, sondern als Signal wahrnehmen
Kinder sind noch nicht in der Lage sich in Erwachsenensprache auszudrücken, sie werden oft von Gefühlen übermannt, sie haben Wutanfälle und können sich schlecht kontrollieren. Wir Eltern sollten sie auf diesem Weg begleiten. Ihre Gefühle benennen und nicht bestrafen. Ihre Wut ernst nehmen und nicht als Trotz abtun. Wir sollten alles was Kinder tun als Signal dafür wahrnehmen, was dahinter liegt. Wir sollten versuchen auf die emotionale Ebene zu schauen und das Kind in seiner Gesamtheit zu sehen. Das ist das, was ich an bedürfnisorientierter Erziehung gut und richtig finde. Und ich arbeite daran darin jeden Tag besser zu werden.
Beziehung und Bedürfnisse in der Erziehung einbringen
Eltern müssen ihren Kindern bei der Geburt etwas versprechen:
„Ich werde Dich immer lieben, wertschätzen und anerkennen, so wie Du bist. Du bist bei mir und bei uns sicher. Du gehört dazu.“
Kinder können und sollten im Leben lernen mit kleinen Enttäuschungen umzugehen. Aber in ihren Grundbedürfnissen, ihren festen Säulen dürfen sie nicht erschüttert werden. Sich das bewusst zu machen, bringt eine große Klarheit. Zumindest bei mir. Das Bedürfnis nach einem Eis oder nach der blauen Tasse zum Frühstück ist kein Grundbedürfnis. Daher ist es auch nicht notwendig alle Wünsche der Kinder zu erfüllen. Vielmehr ist es notwendig bei Verboten, diese zu begründen und den Ärger der Kinder aufzunehmen und ernst zu nehmen. Entscheidend ist, dass Kinder in ihrer Erziehung nicht abgewertet werden und dass wir sie in ihrer Entwicklung begleiten.
Und wenn sich Kinder daneben benehmen?
Ja, das kann passieren. Sie rennen durch den Supermarkt, beißen ihre Kumpels und werfen vor Wut ihr Saftglas an die Wand. Früher hätte man Kinder dafür verurteilt und bestraft. Mit zweifelhaften Erfolgen. Aber macht es nicht nach bedürfnisorientierter Pädagogik Sinn hinter die Fassade zu schauen? Wo ist gerade das (echte) Problem? Wir können unseren Kindern helfen ihre Gefühle zu benennen und ihnen Strategien aufzeigen mit denen sie mit diesen Gefühlen umzugehen lernen. Wir können emphatisch sein und feinfühlig. Und: Und jetzt kommt die Erziehung ins Spiel: Ihnen trotzdem auch erklären, dass es andere stört, wenn sie im Supermarkt rennen. Wir können ihnen klar machen, dass Rennen hier keine Option ist. Und wir können von größeren Kindern erwarten, dass sie helfen das angerichtete Chaos wieder in Ordnung zu bringen, wenn der Rauch verflogen ist. Erziehung muss nicht klassische Strafe bedeuten.
Zur Rücksichtnahme erziehen
Kinder können ruhig lernen, dass auch die Bedürfnisse anderer wichtig sind. Dass es mal nicht nur um sie geht. Das geht zum einen, indem wir auf sie Rücksicht nehmen und auch, indem wir die Kinder darauf aufmerksam machen, wo Rücksicht auf andere geboten ist. Das kommt für mich heute leider bei Vielen zu kurz. Kinder zu Rücksichtnahme zu erziehen bedeutet nicht, dass wir sie zwingen andere vorzulassen oder zu teilen. Es bedeutet für mich vielmehr, dass wir aktiv vorleben und entsprechende Konsequenzen ziehen. Das bedeutet für mich Erziehung:
Bei uns zum Beispiel müssen die Kinder – genau wie die Erwachsenen – im Konzert oder Theater still sein. Wenn sie das nicht schaffen, gehen wir (als Konsequenz) eben raus. Das ist keine Strafe. Das ist gelebte Rücksichtnahme. Wir bleiben nicht im Restaurant, wenn die Kinder laut sind, denn das stört andere. Wir nehmen auf andere Rücksicht und erwarten nicht, dass sie Rücksicht auf uns nehmen. Die Kinder müssen bei uns auch warten bis die Erwachsenen fertig gesprochen haben und dürfen nicht unterbrechen. Ich unterbreche sie im Gegenzug auch nicht. Und so weiter. Das ist für mich Erziehung. Und das finde ich wichtig.
Mein Fazit:
Für mich liegt der richtige Umgang mit den Kindern irgendwo in der Mitte: Wertschätzend und verantwortungsvoll und vor allem authentisch. Ein Grundsatz der bedürfnisorientierten Pädagogik ist: Du bist ok, so wie Du bist. Auch dazu gibt es ein schönes Buch (siehe unten). Und ja, das würde ich unterschreiben: Mein Kind ist in seinen Grundanlagen ok, so wie es ist. Aber ich will ihm dabei helfen, sich noch weiterzuentwickeln. Denn: Auch ich bin ok, so wie ich bin. Und auch ich will mich gerne weiterentwickeln. Gemeinsam wachsen.
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Ich wüsste gerne den Autoren und das Erscheinungsdatum dieses Beitrags, da ich gerne etwas für meine Facharbeit zitieren würde.
Der Artikel ist vom 15.6.2018 und von mir selbst geschrieben : Katharina Müller-Sanke
Wieso haben Sie dann in „Die Supernanny“ völlig anders gehandelt und geraten? Wenn einem Menschen Kinder und dieses Thema wirklich am Herzen liegen: warum lässt dieser sich dann auf eine Sendung ein, die eine „stille Treppe“ als Erziehungsmethode gutheißt?
Ich kann nicht für Katja Saalfrank sprechen, möchte aber dennoch gerne antworten. Sie hat in verschiedenen Interviews klar gemacht, dass sie sich heute davon distanziert. Ich denke, dass ein Lernprozess normal ist und man seine Einstellung zu Themen auch mal ändern kann. Insofern: viele Jahre her, heute sieht sie das anders.
Zum zweiten finde ich aber noch zu beachten, dass die Suppernanny damals in Familien eingesetzt war, die überfordert und in vielen Fällen auch Gewalt eingesetzt haben. Bevor Eltern zuschlagen ist eine stille Auszeit sicher die bessere Wahl.